Die große Stärke der Uncharted-Reihe war schon ab Teil 1 die fantastische Präsentation. Sie sorgte dafür, dass man schon in grauen PlayStation 3 Zeiten das Gefühl hatte, einen Abenteuerfilm im Kino zu schauen. Uncharted wurde damit nicht nur zu einem spaßigen Spiel, sondern auch zu einem spannenden Spielfilm für Freunde, die die Action und die sympathischen Charaktere auch neben dem Controller verfolgten.

Ein neues Tag Team

Die Charaktere in The Lost Legacy sind dabei freilich andere, wenn auch alte Bekannte. Statt der Gebrüder Drake und Vaterfigur/Halunke Sully, erleben wir eine Geschichte aus Sicht von Chloe Frazer, die wir seit Uncharted 2 kennen, und Nadine Ross, welche in Uncharted 4 ihren ersten Auftritt hatte – damals noch als Antagonistin.

Das Szenario: Chloes indischer Vater, selbstredend Archäologe, war besessen davon, den sagenumwobenen Stoßzahn des elefantenköpfigen Gottes Ganesha zu finden. Mit Hilfe der Söldnerin Nadine will sie nun dem Warlord Asav zuvorkommen und das Artefakt finden.

Damit haben wir die Zutaten für ein Uncharted-Abenteuer zusammen: Ein dynamisches Duo, welches Dank der gut geschriebenen weiblichen Protagonisten als erstes Uncharted sogar den Bechdel-Test besteht; einen MacGuffin, dem die Heldinnen nachjagen können; und natürlich einen klassischen Bösewicht, der keine großen Zweifel an seiner schwarzen Seele aufkommen lässt und darüber hinaus ein Söldnerheer alias Kanonenfutter im Rücken hat.

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Denn ja: Wofür Uncharted nie bekannt war, waren innovative, herausfordernde Geschichten. Viel mehr als „Wir müssen den Schatz finden, bevor der Bösling es tut!“ hatte der Plot in der Synopsis nie zu bieten. Großartig ist Naughty Dog aber im Treffen der zwischenmenschlichen Töne und in der spannenden Inszenierung der Geschichte. Denn auch wenn der legendäre Gegenstand und der Bösewicht nie viel mehr sind als ein plot device, ist es immer wahnsinnig unterhaltsam der Handlung zu folgen.

Was Naughty Dog einfach kann ist das Schreiben von Charakteren und Dialogen. Und auch wenn The Lost Legacy nicht ganz das Niveau der Vorgänger erreichen kann, ist es auch hier wieder eine ausgesprochene Freude, unseren Helden zuzuhören. Handelt es sich zu Beginn noch um eine Zweckgemeinschaft, wird das Band zwischen Chloe und Nadine behutsam und glaubwürdig nach und nach gestärkt. Und die Freundschaft beschert uns im Verlauf der Handlung ein paar sehr schöne, herzliche Momente. Anspielungen an die bisherigen Uncharted Teile gibt es selbstverständlich. Man tappt jedoch nicht in die Falle, sich in Augenzwinkern und Referenzen zu verlieren. Zwar reden Nadine und Chloe natürlich auch über ihre Erfahrungen mit den Drakes. Doch sind es eher kleine, herzerwärmende Momente, die den Spieler gewinnen. Etwa wenn wir mit Chloe ins Wasser springen und sie sich lächelnd an den blödelnden Nate erinnert, der mit ihr an einem Pool das Marco Polo Spiel spielt.

The Lost Legacy: Ein Spiel für die Leinwand

Apropos schön: Bereits Uncharted 4 war das wohl am besten aussehende Konsolenspiel 2016. The Lost Legacy nun ein ganz heißer Kandidat darauf, den Titel 2017 zu verteidigen. Zwar halten wir uns, eigentlich serienuntypisch, während der gesamten Handlung in nur einem Land (Indien) auf. Doch so atemberaubend wurde der Subkontinent noch nie in Szene gesetzt. Der Detailreichtum, mit dem Uncharted uns auch hier wieder beschenkt, ist einfach unerreicht. Egal in welchem Szenario! Zu Beginn des Spiels erfreuen wir uns an einem großartig modellierten, farbenfrohen Basar mit Dutzenden über Dutzenden NPCs. Doch auch wenig später gibt es noch genug zu entdecken, selbst wenn wir uns nur in einer stinkenden Gasse aufhalten und die detaillierten Müllberge bestaunen.

Doch all das verblasst, wenn wir im Dschungel die antiken Tempelanlagen von Ganesha und Shiva bestaunen. Mehr als nur einmal bleibt einem als Spieler die Spucke weg. Alle 10 Meter könnten wir in den Fotomodus schalten und das Ergebnis als Postkarte verschicken. Es ist kaum vorstellbar, wie viel Energie und Aufwand das Entwicklerteam in die Architektur gesteckt hat. Wenn man nach dem Durchspielen eines Actionspiels noch ehrfürchtig Artwork zum Spiel anstiert, hat man als Designer wohl einiges richtiggemacht. Passend dazu macht Chloe mit ihrem Smartphone tatsächlich Schnappschüsse, um ihre Reise zu dokumentieren.

Böse Männer vs. Ballermänner

Einzigartig bleiben in Uncharted die Charakteranimationen, die dafür sorgen, dass die Figuren sich so organisch durch die Welt bewegen. Die Modelle wissen zu jeder Zeit, wo sie sich in Relation zu ihrer Umwelt befinden. In Kämpfen bedeutet das das Einbinden von der Umgebung und Gegenständen ins Handgemenge. In ruhigen Phasen streckt der Charakter die Hand aus, wenn wir zu dicht an einer Mauer entlanglaufen, stützt sich ab, oder schiebt Stoffbanner sanft zur Seite. Da verblassen selbst die ebenfalls sehr guten Gesichtsanimationen der Protagonisten, die zum besten gehören was die PlayStation zu bieten hat.

Wenn es nicht kaputt ist…: Meckern auf höchstem Niveau

Spielerisch kann man The Lost Legacy getrost mit Uncharted 4 gleichsetzen: Denn von den Fähigkeiten der Charaktere her gibt es keinen Unterschied zwischen Nate aus Uncharted 4 und Chloe. Sie klettert, springt, fährt, kämpft und schießt auf die gleiche Art und Weise wie ihr männlicher Konterpart. Abgesehen von den Charaktermodellen, den Animationen und den Dialogen gibt es keinen Unterschied, ob man nun Chloe und Nadine oder die Gebrüder Drake spielt. Das umfasst auch die neuen Tricks, die Nate in Teil 4 gelernt hat und so gibt es auch in The Lost Legacy Stellen, in denen wir schwierige Steigungen mit dem Jeep bewältigen, oder die Seilwinde am Wagen einsetzen müssen. Außerdem sind auch die in Uncharted 4 hinzugekommenen Rutschpartien auf dem Hosenboden und die Enterhakenmechanik mit dabei. Tatsächlich gibt es nur eine Sache, die Chloe von Nate unterscheidet: Mit ihren Haarnadeln kann sie Schlösser von Türen oder Waffenkisten des Feindes knacken – was tatsächlich eine gute Ergänzung des Spiels darstellt. Insgesamt hätten wir uns hier mehr spielerisch bemerkbare Unterschiede zwischen Chloe und Nathan gewünscht.

Änderungen gibt es eher im Detail. In den Kletterpassagen gibt es wie gehabt die guten, alten, wegbrechenden Vorsprünge. In offenen Arealen die gleichen Shootouts wie gehabt. Allerdings wurde der Regler in beiden Punkten angenehm zurückgedreht. Konnte man mit Nathan Drake irgendwann keinen Fuß mehr vor den anderen setzen ohne in eine Schlucht zu fallen, muss Chloe ein bisschen weniger einstecken. Und auch die Shooterpassagen kommen ohne endlose Wellen an menschlichen Kugelschwämmen aus. Höchstens ein Mal wird in den Arealen Verstärkung gerufen, dann ist die Ballerei vorbei. Legendär frustige Stellen wie der Schiffsfriedhof aus Uncharted 3 gibt es zum Glück überhaupt nicht und einige Stellen laden auch dazu ein, komplett an den Gegnern vorbei zu schleichen.

The Lost Legacy ist nichts weniger als atemberaubend schön!

Und auch wenn wir die Jeep-Passagen aus Uncharted 4 schon kennen, spendiert uns The Lost Legacy in den Western Ghats eine Mini-Open World, in der wir selbst auswählen können, in welcher Reihenfolge wir drei Ruinen untersuchen dürfen. Obendrauf gibt es 11 Schreine, die uns optional kleine Rätsel- oder Geschicklichkeitsproben abverlangen.

Schön für Multiplayerfans: The Lost Legacy bietet vollumfänglichen Zugriff auf die Mehrspielerinhalte von Uncharted 4. Zusätzlich gibt es mit der Survival-Arena einen neuen Modus, der wie ein klassischer Horde-Modus funktioniert: Im Coop stellen wir uns bis zu 10 Gegnerwellen, die wir überstehen bzw. niedermähen müssen. Die auch technisch sauberen Multiplayer Matches finden sicherlich genügend Freunde, waren für mich aber nie mehr als ein bisschen Gemüse an der Seite eines saftigen, schmackhaften Bratens, den der Singleplayer bietet.

Fazit:

Das größte Lob, das ich Uncharted: The Lost Legacy aussprechen kann, ist zugleich auch der einzige größere Kritikpunkt: Man bekommt exakt das was man erwartet, wenn man einen Uncharted-Teil kauft.

Auf der positiven Seite bedeutet das: Eine zwar etwas kürzere, aber mit derzeit 20 Euro auch deutlich günstigere Episode in der unsterblichen Uncharted Serie. Spannende Action, packende Inszenierung, lustige, herzliche Dialoge zwischen glaubwürdigen Charakteren und eine Optik, die auch eine alte PlayStation 4 noch vor Stolz erstrahlen lässt.

Kritisieren lässt sich dabei, dass Naughty Dog dieses „Uncharted 4.5“ nicht dafür nutzt, um ein wenig mit der Formel zu experimentieren. Wir bekommen die gleichen Setpieces, die wir schon aus Uncharted 4 kennen und Chloe unterscheidet sich spielerisch in keiner Weise von Nate. Rutschpartien? Enterhaken? Spritztour mit dem Jeep? Kennen wir alles schon aus Teil 4!

Für meinen Geschmack wiegt die Kritik jedoch nicht auf, was Uncharted: Lost Legacy alles großartig und richtig macht. Es ist wie ein Nachschlag vom Lieblingsessen bei Oma: Zwar muss man sich alte Geschichten anhören, die man so oder so ähnlich bereits gehört hat, aber verdammt nochmal, es lohnt sich!

Fans der Serie müssen zugreifen. Liebhaber von absolutem Augenschmaus, Action und Abenteuer, die bisher keinen Berührungspunkt mit Uncharted hatten, finden in Lost Legacy den perfekten, weil destillierten und günstigen Testballon. Wer hingegen mit Uncharted noch nie etwas anfangen konnte, sollte auch hier die Finger weg lassen.

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