Ich hab sie nur noch selten, diese Spieleerlebnisse, die mich voll und ganz in ihren Bann ziehen. In denen ich ganz aufgehe und völlig vergesse, wie viele Stunden schon vergangen sind. Denen ich meinen Tagesablauf unterordne: Ja gut, geh ich halt nicht mehr einkaufen, ich müsste noch irgendwo Champignons aus der Dose haben. Und die Freundin kann diesen Abend auch glänzend ohne mich bestreiten. Ich muss einfach wissen was nach diesem Cliffhanger passiert!

Erase and Rewind

So ist es aber wieder bei Life is Strange geschehen. Während viele von euch vermutlich die fünf Episoden im letzten Jahr Häppchenweise zu sich genommen haben, habe ich mir die vergangenen Tage die komplette Staffel in komprimierter Form einverleibt. Und man, war das ein Trip.

Für diejenigen, die bisher auch noch nicht in den Genuss dieses wunderschönen Adventures gekommen sind, ein wenig Hintergrundstory – spoilerfrei versteht sich: Max Caulfield ist eine 18jährige Studentin der Fotografie in der Kleinstadt Arcadia Bay im Bundesstaat Oregon. Hier wuchs sie als Kind gemeinsam mit ihrer besten Freundin Chloe auf, zu der sie aber seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Neben dem üblichen Drama, das das Teenie-Leben nun einmal so mit sich bringt, gehen auf der Schule aber noch merkwürdige, böse Dinge vor sich und Studenten verschwinden spurlos und – ach wie konnte ich das vergessen: Auf einmal entwickelt Max die Fähigkeit, die Zeit zurückzudrehen und ihre Vision eines alles zerstörenden Tornados!

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Es gibt immer einen Leuchtturm…

Während diese besondere Gabe zu Beginn des Abenteuers noch eher spielerisch eingesetzt wird und man auf die Idee kommen könnte, Entwickler Dontnod wollte seinem Spiel einfach ein besonderes Gimmick verpassen, um eine tolle Geschichte zwischen Kriminal-Thriller und Freundschaft zu erzählen, rückt die Zeitreisekomponente bald immer mehr in den Fokus der Erzählung.

Zunächst benutzt Max ihre Fähigkeit öfter um Rätsel zu lösen, oder die Sympathie von anderen Charakteren zu gewinnen, indem sie Wissen aus der unmittelbaren Zukunft nutzt, um beim Gegenüber „die richtigen Knöpfe“ zu drücken. In den späteren Episoden fühlt man sich was den Handlungsentwurf erinnert aber irgendwo in ein Spannungsfeld aus dem Film Butterfly Effect und Bioshock Infinte befördert und man merkt, dass es hier um mehr als nur eine einfache Krimi-Highschool-Story geht.

Zurücklehnen und versinken

Dabei bleibt die Geschichte fortwährend spannend und man muss einfach immer wissen, wie es denn nun weitergeht. Besonders die bereits angesprochenen Cliffhanger an den Enden der jeweiligen Episoden machen ein Abschalten eigentlich völlig unmöglich. Nur äußerst selten gerät das Tempo des Spiels mal ins Stocken. Beispielsweise gibt es eine Szene, in der wir mit Max Flaschen auf einem Schrottplatz sammeln müssen, die etwas zu lang geraten ist. Wunderbarerweise hat man bei Dontnod aber auf diesen wohl häufiger angebrachten Kritikpunkt auf eigene Art und Weise reagiert und hat in der letzten Episode noch einmal eine schöne Anspielung auf besagten Abschnitt verbaut. Da konnte ich dem Spiel schon nicht mehr böse sein.

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Chloe und Max auf vorbestimmtem Pfad?

Die große Stärke des Spiels lag für mich allerdings in der Atmosphäre von Life is Strange. Diese hat es mir so richtig angetan. Der aquarell-artige Grafikstil mag zwar aus der Not eines zu knappen Budgets heraus geboren sein, passt aber hier wie Faust auf Auge. Durch die Gold- und Brauntöne wird hier durchweg eine tolle Lichtstimmung erzeugt und man geht durch Stilisierung und der absichtlichen partiellen Auslassung von Details einen mutigen Schritt weg von „Fotorealismus“ hin zu einer ganz eigenen markanten Form des grafischen Ausdrucks.

Untermalt wird das Ganze von einem perfekten, gitarren- und pianolastigen Soundtrack, der so gut ins Spiel einbezogen ist, dass er schon mehr ist als Hintergrundmusik sondern eher vollwertiger Bestandteil der Spielmechanik. Manchmal verliert selbst der Trieb die Handlung immer weiter zu treiben gegen den Impuls einfach mal auf einer Bank oder einem Stuhl zu sitzen und nur zuzuhören. Ein bisschen so wie damals in Mass Effect als man die Sternenkarte öffnete und sich nicht überwinden konnte, einen Planeten auszuwählen weil der gespielte Song einfach das Spielgefühl so sehr atmete.

Mehr Tiefe als erwartet

Wenn Max zu Beginn des Spiels in ihrem Klassenraum sitzt, sich umsieht und ihre Klassenkameraden betrachtet, glaubt man sie alle sehr schnell durchdringen zu können. Wir haben die klassischen Geeks, Nerds, Jocks, Cheerleader, Zicken, Skater, Punks, Introvertierte und Rich Kids. Aber ehe man sich versieht entwickeln die Schlüsselcharaktere eine emotional befriedigende Tiefe und man nimmt sich alle Zeit der Welt, um sich alles in ihren Zimmern ganz genau anzuschauen, um sie noch weiter kennenzulernen.

Im Zentrum der Charakterdynamik steht die Freundschaft zwischen Protagonistin Max und ihrer besten Freundin Chloe. Ihre Beziehung ist dabei so schön gestaltet und Max in ihren Beobachtung und Empathie so sympathisch, dass selbst ein 27-jähriger Mann gerne lauscht wenn die beiden Best Friends einfach nur in der Vergangenheit schwelgen, ihre Freundschaft zelebrieren oder sich mal fetzen. Wenn man sich mit einer 18jährigen schüchternen Fotografie Studentin so gut identifizieren kann und sogar irgendwie selbst Lust bekommt sich eine Polaroid Kamera zu kaufen, haben die Entwickler beim Charakterdesign wirklich einiges richtig gemacht.

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Life is Strange: Die Dunkle Bedrohung

Dabei bleiben die behandelten Themen beileibe nicht nur im Highschool und BFF-Kosmos haften. Neben dem Roten Faden der Story rund um die verschwundene Studentin Rachel, den übernatürlichen Komponenten der Zeitreise werden ganz nebenbei auch noch gewichtige Themen wie Selbstmord, Umwelt, Sterbehilfe, Unschuld und Verderben, elterlicher Druck und so weiter angesprochen. Manchmal wird das Spiel dabei ein wenig zu präsent und durchbricht die Schwelle der Subtilität mit Karacho. Aber man wird stets emotional involviert bleiben.

Entscheidungen

Besonderes Augenmerk verdienen dabei die Entscheidungen, die man als Spieler zu treffen hat. Diese können unbedeutend sein wie „Will ich Waffeln oder Speck zum Frühstück?“ aber auch außerordentlich gewichtig, sodass ich an mehr als einer Stelle im Spiel den Controller aus der Hand legte und erst mehrere Minuten über meine Entscheidung nachdenken musste. Zwar bietet mir das Spiel die Möglichkeit die Zeit zurückzudrehen um mir anzusehen, welche kurzfristigen Auswirkungen eine andere Entscheidung gehabt hätte. Getreu dem Mechanismus des Schmetterlingseffekts weiß man jedoch nie so genau, welche langfristigen Folgen sich ergeben werden und ich für meinen Teil wollte mit meiner Wahl immer gänzlich im Reinen sein. An einer Stelle des Spiels versagt zudem Max‘ Fäh
igkeit des Rewind und wir müssen um schwerwiegende Konsequenzen abzuwenden beim ersten Mal schon alles richtig machen – das prägt! Und über die letzte große Entscheidung in Episode 5 kann man so schön diskutieren und heruminterpretieren wie schon lange nicht mehr am Ende eines Videospiels.

Fazit

Wer sich bei der Lektüre des Tests dachte, dass er sich sehr wie eine Liebeserklärung liest, hat damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Die knapp 15 Stunden, die ich mit dem Titel verbracht habe, waren eine schöne Emotionsachterbahn zwischen Feel Good Moments und Trübsinn, in der in dichter Atmosphäre eine Geschichte über Hoffnung, Freundschaft, Loslassen und Trauer erzählt wurde.

Bereits nach der ersten Episode ist man dem Spiel verfallen und allein in die Musik aus dem Hauptmenü verliebt. Wer auf dieses Gesamtkunstwerk Lust und keine Angst vor seinen eigenen männlichen Tränen hat, wird die ca. 25 Euro Investition mit keiner Faser seines Körpers bereuen.

[pricemesh]

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